Abb.: Dr. Reinhard Kaufmann vor ‚Magie Im Gebirge‘ von Maria Tereza Negreiros, 1961, 90 x 80 cm

Fig.: Dr. Reinhard Kaufmann in front of 'Magic In the Mountains' by Maria Tereza Negreiros, 1961, 90 x 80 cm

WHAT’S ON YOUR WALL?

#9 Dr. Reinhard Kaufmann

 

Eine Kooperation mit der Gießener Allgemeinen Zeitung

A cooperation with the Gießener Allgemeinen Zeitung

 

Was Kunst mit uns macht?

 

Würde ich gefragt werden, was Kunst mit mir gemacht hat, könnte ich nur antworten: sie hat zu meinem Lebensglück beigetragen und mich dankbar gemacht, nachdem sie mich nahezu mein ganzes Leben lang begleitet hat und mich dauerhaft in allen Räumen unseres Hauses umgibt. Das gilt nicht nur für die Bildende Kunst, sondern schließt auch die erfahrene Berei-cherung durch die Musik, das Theater und die Architektur ein – eben die Kunst in einem umfassenderen Sinne.

 

Eine frühe, nachhaltige Begegnung mit Bildern, die meinen Umgang mit der Bildenden Kunst geprägt hat, hatte ich zu Beginn der 1960er Jahre, als ich an  einer  meeresbiologischen For-schungsstation an der schwedischen Skagerrakküste für meine Doktorarbeit forschte: Als ausländischer Gast wiederholt eingeladen in die Privathäuser des Stationspersonals, vom Direktor über den Werkmeister bis hin zum Bootsmann, war ich erstaunt, dass an den Wän-den der Häuser Originalwerke zeitgenössischer lokaler und regionaler Künstler hingen, statt, wie ich das in den Wohnzimmern bürgerlicher Familien in Deutschland erlebt habe, Drucke der ganz Großen in der Bildenden Kunst, wie etwa  Dürers "Betende Hände"  oder van Goghs "Sonnenblumen". Diese Art der Hinwendung an die Bildende Kunst habe ich nicht nur mir selbst zu eigen gemacht, sondern auch Jahrzehnte später als Gießens Kulturdezernent bei Vernissagen in meinen Grußworten immer wieder das Publikum ermuntert, doch auch Arbei-ten der heimischen Künstlerinnen und Künstler zu erwerben – zu ihrer eigenen Freude und zum Wohle der Kunstschaffenden.

 

Als ich dann in den 1960er und frühen 1970er Jahren für die JLU fast zehn Jahre in Kolum-bien tätig war, interessierte mich bald die dortige Kunstszene, die sich in jener Zeit mehr und mehr von den akademischen Traditionen löste und der zeitgenössischen Moderne zuwandte. Wir, meine Frau und ich, wollten diese spannenden Entwicklungen für uns dokumentieren, indem wir versuchten, einen möglichst repräsentativen Querschnitt der damals in Kolumbien aktuellen Bildenden Kunst für unsere späteren "eigenen vier Wände" zusammenzutragen. Dabei gingen wir von vier Kriterien aus: (1) die Bilder, ganz gleich welcher Techniken, mussten uns gefallen; (2) ihre Urheber mussten zur "ersten Garnitur" der kolumbianischen Gegenwartskunst gehören (das bedeutete auch intensive Beschäftigung mit dem Kunstschaffen jener Zeit); (3) die Formate der Werke mussten zur Hängung an den Wänden eines "normalen" bürgerlichen Hausstandes geeignet sein (schließlich würden wir weder in einem Museum noch in einer Kunstausstellungshalle leben!) und (4) sie mussten für das Portemonnaie eines Jungakademikers erschwinglich sein. Übrigens galten diese Maximen auch, als ich mich nach meiner Rückkehr nach Gießen ab den 1970er Jahren der zeitgenössischen Kunstszene in Mittelhessen zugewandt habe.

 

Auf die Frage nach einem Favoriten unter unseren stillen "Mitbewohnern" an den Wänden in unserem Haus – vom Windfang bis zum Wohnzimmer, zum Teil in "Petersburger Hängung" – fällt mir eine Antwort schwer. Eines meiner liebsten Bilder, die ich aus Kolumbien mitgebracht habe – ein Beispiel für den abstrakten Expressionismus – ist das Ölbild (auf Leinwand im originalen Rahmen der Künstlerin) "Magie im Gebirge" (1961) von Maria Tereza Negreiros. Das Bild war übrigens schon einmal in Deutschland, anlässlich der Ausstellung "Arte Colombiano – Kolumbianische Kunst von der Frühzeit bis zur Gegenwart", die 1962 in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden gezeigt und in deren Katalog es abgedruckt worden war. Für mich, der ich selbst einige Male in tropischen Hochgebirgen unterwegs war, zeigt es in Farben und Formen, wie man als Wanderer die Bergwelt der kolumbianischen Anden erleben kann bei einem frühmorgendlichen Aufstieg aus dem noch fast nächtlichen Dunkel der Täler in die von der aufgehenden Sonne angestrahlten Gipfelregionen.

 

Auf einer gedachten Skala meiner Sympathiewerte folgt dicht auf dieses Bild der gegen-ständlich gemalte "Pelikan", eine Collage auf Hartfaserplatte von Leopoldo Richter, einem deutschstämmigen, kolumbianischen Entomologen, Maler und Keramikkünstler. Der stattliche Vogel hing als angeblich unverkäuflicher Blickfang in der Bogotaner Galerie, in der ich die meisten meiner Bilder erworben habe, und der nun doch die ganz diesem Künstler gewidmete Wand bereichert, weil uns beide unser Beruf als Zoologen verband und Richter – mit Recht – vermutete, bei mir wäre der "Pelikan" gut aufgehoben.

 

Abschließend eine kleine Geschichte: Lange Zeit fehlte der nicht nur in Kolumbien, sondern auch international bekannte Künstler Alejandro Obregón in unserer Sammlung, denn seine größerformatigen Werke waren dank seines Renommees für mich unerschwinglich. Da meldete sich eines Tages am Telefon mein Galerist, einer seiner Kunden suche ein größeres Werk von Obregón und wolle dafür seinen "kleinen Obregón" in Zahlung geben. Der Tausch kam zustande und ich in den Besitz "meines Obregón". Anfang der 1970er Jahre wieder zu-rück in Gießen, wollte ich die Bildersammlung, nachdem sie etliche Jahre in einem tropischen Klima zu Hause war, begutachten und, wo erforderlich, restaurieren lassen. Damit betraute ich den damals in Gießen tätigen, 1999 verstorbenen Hardthof-Initiator und Restaurator György Schmidt. Dabei entdeckte er auf der Rückseite des kleinen Obregón-Bildes eine ganz ähnliche Arbeit, die er durch eine entsprechende Rahmung einer gelegentlichen Betrachtung zugänglich machte. Und so hängt an der Wand neben dem Siebdruck mit dem aggressiven, tropischen Barracuda von Obregón nicht nur eine weitere, dauerhaft sichtbare Arbeit von ihm, sondern auch eine zweite, die jedoch nur auf Anfrage angeschaut werden kann. Über einen solchen Zugewinn würde sich gewiss auch der pfiffige Rabe des von mir sehr geschätzten Nieder-Bessinger Grafikers Bodo W. Klös freue. Seine beeindruckenden Themen-Kassetten und -Mappen haben allerdings ihren Platz in den Regalfächern meiner Bibliothek und nicht an den Wänden unseres Hauses gefunden.

 

Dr. Reinhard Kaufmann, Jg. 1937; 1956-1964 Studium der Naturwissenschaften in Gießen; 1964-1972 Meeresbiologische Forschungen in Kolumbien; 1981-1997 Stadtverordneter und 2002-2009 Kulturdezernent in Gießen.

 

 

 

 

What art does to us?

 

If I were asked what art has done to me, I could only answer: after having accompanied me throughout almost all of my life and constantly surrounded me in all the rooms of our house, it has contributed to the happiness of my life and made me grateful. This doesn’t just apply to the visual arts, but includes the enrichment I have felt through music, theatre and architecture too – in other words, art in its broadest sense.

 

A lasting early encounter with paintings that shaped my approach to the visual arts occurred in the early 1960s while I was doing research for my doctoral thesis at a marine biology research station on Sweden’s Skagerrak coast. As a foreign guest I was repeatedly invited into the private homes of the station staff, from the director to the foreman and the boatman. It amazed me to see original artworks by contemporary local or regional artists hanging on the walls of their homes, as opposed to prints by the all-time greats of the visual arts, such as Dürer’s ‘Praying Hands’ or van Gogh’s ‘Sunflowers’ that I had experienced in the living rooms of bourgeois families in Germany. I not only adopted this way of approaching the fine arts for myself, but even decades later, as Giessen’s head of cultural affairs, I always urged the public to acquire works by local artists in my opening speeches – both for their own enjoyment and for the benefit of the artists themselves.

 

In the 1960s and early 1970s, I spent almost ten years working for the JLU in Colombia. During that time, I quickly became interested in the country’s art scene, which was increasingly breaking away from academic traditions and moving towards contemporary modernism. We, my wife and I, wanted to document these exciting developments for ourselves by seeking to gather as representative a cross-section of the visual arts in Colombia at that time as we could for our own future ‘four walls’. We based this on four criteria: (1) we had to like the pictures, no matter what the technique; (2) their creators had to belong to the ‘first set’ of Colombian contemporary art (this also meant intensive study of the art being produced at the time); (3) the works’ format had to be suitable to be hung on the walls of a ‘normal' middle-class household (after all, we would be neither living in a museum nor in an exhibition hall!) and (4) they had to be affordable for a young academic. Incidentally, these same maxims applied to the contemporary art scene in Central Hesse in the 1970s, when I returned to Giessen.

 

From the porch to the living room, partly in ‘Petersburg hanging’, I find it difficult to answer the question of a favourite among our silent ‘flatmates’ hanging on the walls of our home.

One of my favourite paintings that I brought back from Colombia – an example of abstract expressionism – is the oil painting (on canvas in the artist’s original frame) ‘Magic in the Mountains’ (1961) by Maria Tereza Negreiros. Incidentally, the painting had already been in Germany once before, on the occasion of the exhibition ‘Arte Colombiano – Colombian Art from the Early Period to the Present’, which was shown in 1962 in the Staatliche Kunsthalle Baden-Baden and in whose catalogue it was printed. For me, having travelled several times in the high tropical mountains, it depicts the colours and forms that a hiker can experience in mountain world of the Colombian Andes on an early morning ascent from the still almost nocturnal darkness of the valleys up to the summit regions illuminated by the rising sun.

 

On a scale of my own affinity and values, this painting is closely followed by the figurative ‘Pelican’, a collage on hardboard by Leopoldo Richter, a Colombian entomologist, painter and ceramist of German origin. The stately bird was hanging as a purportedly non-saleable eye-catcher in the Bogotan gallery where I acquired most of my paintings, and it now enriches the wall dedicated entirely to this artist, because we both shared our profession as zoologists and Richter – rightly – suspected that the ‘pelican’ would be in good hands with me.

 

To conclude, a little story: for a long time, the artist Alejandro Obregón, known not only in Colombia but also internationally, was missing from our collection, due to his reputation, his larger-format works were beyond my budget. Then one day the owner of a gallery called to say that one of his clients was looking to acquire a larger work by Obregón and wanted to part with his ‘little Obregón’ as a payment.

 

The exchange took place and I came into possession of ‘my Obregón'. At the beginning of the 1970s, back in Giessen, I wanted to have my collection of paintings examined and restored after they had been in a tropical climate for several years. I entrusted this task to the Hardthof initiator and restorer György Schmidt, who was working in Giessen at the time and who passed away in 1999. During this process, he discovered a very similar work on the back of the small Obregón painting, and by framing it in the right way, he made it accessible for occasional viewing. And so, next to the silkscreen with Obregón's aggressive, tropical barracuda, there hangs on the wall not only one permanently visible work by him, but also a second one that can, however, only be viewed on request. The smart raven by the graphic artist Bodo W. Klös from Nieder-Bessingen, whom I hold in high esteem, would surely also be pleased with such an addition. However, his impressive themed cassettes and folders have found their place on the shelves of my library and not on the walls of our home.

 

Dr Reinhard Kaufmann, born 1937; 1956-1964 studied natural sciences in Giessen; 1964-1972 marine biology research in Colombia; 1981-1997 city councillor and 2002-2009 head of cultural affairs in Giessen.

 

Abb.: Wand mit Arbeiten von Leopoldo Richter (1896-1984) aus den 1960er Jahren;
in der oberen Reihe Ölbilder (rechts der Pelikan), in der unteren Keramikarbeiten

Fig.: Wall with works by Leopoldo Richter (1896-1984) from the 1960s;
upper row with oil paintings (right: the pelican), bottom row with ceramic works

Abb.: Berta Combariza, 1972, ohne Titel, aus der Serie Der Kosmos und die Farbe.
Öl auf Leinwand,100 x 70 cm

Fig.: Berta Combariza, 1972, untitled,
from the series The Cosmos and Colour.
Oil on canvas, 100 x 70 cm

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Der Eintritt ist frei.

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